die ästhetische relevanz von gewürzsäcken
Ich stehe vor meinem frisch begonnenen Werk und bin unschlüssig.
Nicht die Farben sind es, die mich stören. Es sind vielmehr die Formen, die sich heute sträuben meine gewohnten Ansprüche zu erfüllen ... nichts ist wie sonst, wenn meine Inspiration einem inneren - offenbar unbewussten - Impuls nachgibt.
Es ist das neue Material, das mir eine Aufgabe stellt.
Ich habe, einerseits um der groben Struktur willen, andererseits, um Geld zu sparen, in einer Fabrik alte Gewürzsäcke erworben und diese auf Keilrahmen aufgezogen. Nun stehe ich also vor meiner Staffelei und betrachte das grobe Sackleinen, das ursprünglich als nichts anderes gedacht war denn als schlichter Malgrund. Doch die Jute des einstigen Gewürzsackes ist nicht so jungfräulich, so unberührt, wie die Leinwand, mit der ich üblicherweise arbeite. Sie trägt vielmehr eine individuelle Geschichte - die Geschichte ihrer Entstehung, ihrer Reise, ihrer Aufgabe, ihrer Bestimmung.
Ich betrachte die Spuren und alten Wunden auf den Säcken und bin überwältigt.
Produktbezeichnungen finden sich neben Zollstempeln in verschiedensten Farben. Darüber hinaus gibt es handschriftliche Vermerke und nicht entschlüsselbare Ketten von Zahlen und Buchstaben. Der Sack ist schmutzig, faltig, an vielen Stellen zerrissen und verschlissen. An manchen Stellen wurde er provisorisch zusammengeflickt, um sein Ziel zu erfüllen, seine Destination doch noch zu erreichen.
Mein erster Impuls ist, den Sack - unbearbeitet wie er ist - auszustellen. Doch haben Künstler des letzten Jahrtausends - Duchamp, Warhol, andere - das Thema des Alltagsgegenstandes, der unverfälscht als Kunstwerk an sich zu betrachten sei, bereits mannigfaltig verwendet. Ich entscheide mich nun doch dafür, dem Sack durch meinen Malstil eine persönliche, eigenständige Note zu verleihen. Mir wird immer bewusster, was Immanuel Kant meinte, als er schrieb, man müsse einem Kunstwerk mit Interesselosem Wohlgefallen gegenübertreten: Es bedeutet keineswegs, dass man an dem Werk selbst kein Interesse haben dürfte, aber vielmehr, dass man alle ökonomischen, nützlichen, wissenschaftlichen, religiösen, gefälligen und sonst üblichen Interessen beiseite lassen und das bestimmte Objekt „um seiner selbst willen“ betrachten und schätzen sollte!
Und nun stehe ich vor dem neuen Werk und versuche, ohne den Sack seiner Eigenständigkeit und Geschichte zu berauben, ebendiese Individualität mit Farbe und abstrakten Formen zu komplimentirren.
Fast ehrfurchtsvoll betrachte ich den Produktaufdruck (WHITE PEPPER), die Zollstempel (PRODUCT OF M«SIA und S2.50 KGS NETT) und den handschriftlichen Vermerk (fine bran). Wie alt mag der Gewürzsack wohl sein? 1001 Geschichten zwischen Singapur und der Nordsee ließen sich in die Zeichen und Verletzungen, die er trägt, interpretieren und würden seiner wahren Geschichte wohl doch nicht gerecht.
Und mein Geist beginnt zu wandern.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich ein Mädchen, das jahraus jahrein bei jeder Witterung frühmorgens durch Reisfelder stapft. Mit seinen kleinen Händen knüpft es im nahen Ort Jutesäcke, um vom Verhungerlohn, den es verdient, leidlich sich selbst und seine Geschwister zu ernähren. Ich sehe Maultiere auf dem Weg zur nahen Stadt, die einen Karren ziehen und Berge von Säcken weiterbewegen. Ein kleiner Transporter übernimmt sie, um sie bei einer Gewürzfabrik anzuliefern. Mit Produktbezeichnungen vollgestempelt, mit Majoran gefüllt und einigen handschriftlichen Vermerken versehen, beginnt in meiner Phantasie nun der lange Weg der Gewürzsäcke - per Kamel, Lastwagen, Zug, Schiff, Flugzeug.
In meiner Vorstellung durchkreuzt der Sack, den ich gerade bearbeite, den Indischen Ozean, umschifft das Kap der guten Hoffnung und erreicht den Atlantik.
Ich gebe mich dieser Illusion hin. Ich fühle mich neuerlich von den Musen geküsst und ein junger Reigen an Farben und Formen beginnt seinen Fluss wie Honig.
Der Riss, den der Sack irgendwann abbekommen hat und der mittlerweile wieder genäht worden war, wird wohl ganz banal von einem Hubstapler stammen, denke ich. Ich bin jetzt zu nüchtern. Viel romantischer erscheint mir aber sofort die Vorstellung, dass zwei Matrosen im erbitterten Streit um die Gunst ihrer gemeinsamen - vermeintlich beider sehnsüchtig in Bangkok harrenden - Geliebten zu ihren Messern griffen und dabei versehentlich den Sack aufschlitzten. Später - nach einer Flasche Rum, welche die Erinnerung an das treulose Objekt ihrer Begierde und den vorangegangenen Streit nicht nur verblassen, sondern auf höchst seltsame Weise sogar lächerlich erscheinen lässt - wird der Sack heimlich und dümmlich kichernd mit einfachsten Mitteln gemeinsam wieder zusammengeflickt, auf dass man nicht mit dem Ärger des Kapitäns und einer Lohnkürzung rechnen müsse.
Ich halte inne und amüsiere mich über meine eigenen Gedankengänge. Mehr und mehr Respekt gebietet mir der Sack, dem zeitlebens seiner Existenz dermaßen viel Aufmerksamkeit in ökonomischer, jedoch niemals in ästhetischer Hinsicht entgegengebracht wurde. Und ich verstehe, wie alle Dinge in ständigem, ganzheitlichem Zusammenhang sind. Endlos viele Geschichten lassen sich über die Säcke und deren individuelle Wege durch die Weltgeschichte weben und knüpfen.
In meinem Geiste läuft das Schiff nun langsam im Hafen von Hamburg ein, wo es entladen und auch „mein“ Sack an seinen Bestimmungsort geliefert wird. In einer Fabrik wird das Gewürz in kleine Gläser gefüllt und in den Handel ausgeliefert.
Meine Phantasie will jedoch unbedingt ein rührseliges Happy-End für das kleine Mädchen schaffen, das den Leidensweg des Gewürzsackes mitbeeinflusst hatte: Und sofort adoptiert es auch schon eine deutsche Familie und nun sitzt es in einer ziemlichen Großstadt in Deutschland zu Tisch und isst unter Auferbietung all« seiner anerzogenen Demut Berliner Leber mit Majoran - ohne zu wissen, dass das Gewürz aus eben jenem Sack stammt, den es vor langer Zeit selbst gewoben hatte.
Es ist eine Szene wie aus einem alten Heinz Rühmann Film und ich bin damit zufrieden. Ich öffne die Augen.
Vor mir sehe ich ein Werk von so ungewöhnlicher Tiefe, wie ich vergleichbar keines zuvor geschaffen habe. Der eigentliche Akt des Malens ist mir nicht mehr bewusst (Meine Kreativität ließ sich nie definieren über „ich tue“, sondern immer nur über „es kommt“!). Ich freue mich schon auf die Arbeit, die jetzt auf mich zukommt ... die mich wiederum in fremde Welten und zum Herzen ungeahnter Geschichten entführen wird.
Auch bin ich schon neugierig auf die Interpretationen jener parasitären Kunstperipherie, die wie immer mehr über mein Werk und „Kunst an sich“ wissen wird, als ich selbst. Ich lasse dann die ganze Palette Pawlowscher Verhaltensmuster, die von skeptischer Einfallslosigkeit bis hin zu kritikloser Hingabe reicht, über mich ergehen. Und ich ertappe mich dabei, das nonsensicale Geschwätz selbsternannter Kunst-Kommunikatoren hilflos zu schlucken (Kunst-Kommunikatoren seien im Zusammenhang jene Mittler zwischen Kunst und Wirtschaft, die ausschließlich ökonomischen Umgang mit Kunst pflegen und deren höchstes Ziel es ist, sich selbst gesellschaftlich zu profilieren - Minderwertigkeitskomplex schau owa!). Hier werden Kunst und Künstler begraben. Hoch leben die Seitenblicke und die linke Hirnhälfte! Kunst - Kommunikatoren! Oh Gott!
In diesem Sinne bin ich misfit - nicht gesellschaftsfähig - bin es gerne, denn mein Hirn schlägt die Brücke zur anderen Hälfte wohl.
Ich kann wenig anfangen mit jenen Leuten, die nur sich selbst und ihre Meinung wichtig nehmen, die sich ständig bemüßigt fühlen, ihre geistigen Auswürfe über Kunst lauthals auszuspeien - ohne selbst je kreativ gewesen zu sein, ja, darüber hinaus nicht wissend, dass sie meist gar kein Kunstgespräch führen, sondern nur ihre Psyche offen legen. Es erscheint mir dann immer so, als würde jemand, der noch nie Sex hatte, darüber ein Buch schreiben. Um Kunst zu verstehen muss man Kunst leben, Freunde! 24 Stunden, nein, besser noch: 48 Stunden am Tag!
Ich selbst stehe nicht gern im Mittelpunkt, erzähle Wenigen vom philosophischen Hintergrund meiner Malerei, lasse meine Arbeit lieber für sich sprechen – „... jedem seine eigene Interpretation!“ forderte Kandinsky bereits vor 100 Jahren.
Irgendwie bin ich froh, wenn Vernissagen vorüber sind. Ich freue mich auf zuhause, wo ich wieder in meine eigenen idealistischen Welten flüchten kann. Sie erscheinen um nichts weniger real als die aktuelle. Doch ausnahmsweise war mir das Glück hold, an diesem Abend der Eitelkeiten, habe ich doch tatsächlich jenes erste Werk verkauft, das mir die Augen geöffnet und den Horizont erweitert hat. Die Miete ist vorerst gesichert.
Tausende Kilometer entfernt lag ein kleines Mädchen zusammengekauert in der schmutzigen Schlafbaracke einer Jutefabrik und versuchte, gegen die Ohnmacht anzukämpfen. Es weinte lautlos, denn der Vorarbeiter war unzufrieden. Mit zerschundenen Händen versuchte es, den Schmerz der Blutergüsse, die so unendlich langsam heilten, zu lindern. Nur einmal im Monat durfte es nach Hause zu seinen Eltern, um den kargen Lohn, der nur für wenig Reis reichte, abzuliefern. Es wollte nur schlafen, nichts als schlafen - um für kurze Zeit der Realität zu entfliehen und in jenen wohlverdienten Traum einzutauchen, der es mitunter in unbekannte, heile Welten entführte.
Ich werde trotzdem tief und fest schlafen in dieser Nacht, denn ich hoffe einfach, dass auch obiger pathetische Schluss meiner Geschichte nur ein Produkt der Phantasie ist und nicht eine determinierte Erkenntnis in größerem, uneinsehbarem und holistischem Zusammenhang.
Gerald Herrmann
Preisträger Salzburger Kultur-Fonds 1997 / überarbeitet 2000